3 min

Neue Wege in der Gehörforschung

Die ikonische Karriere von Professor Rong Z. Gan

Prof. Rong Zhu Gan

Wir trafen Prof. Rong Zhu Gan zum virtuellen Interview im Juli 2022. In einschlägigen Kreisen der Gehörforschung ist sie eine Persönlichkeit, die man eigentlich nicht vorstellen müsste. Für ein breiteres Publikum ist sie Inhaberin der George Lynn Cross Forschungsprofessur der University of Oklahoma, Presidential Research Professor, Charles E. Foster Chair und Professorin für Biomedizintechnik und Maschinenbau an der Fakultät für Luft- und Raumfahrt & Maschinenbau der University of Oklahoma und ist dort seit 25 Jahren tätig. Vor allem aber ist sie Pionierin auf dem Gebiet der Gehörmechanik. In ihrer jahrzehntelangen Forschung befasste sie sich mit sämtlichen Teilgebieten – ob Mittel- oder Innenohr, FE-Modellierung, Hörimplantate, den biomechanischen Eigenschaften von Gewebe und vielem mehr.

In diesem Interview möchten wir auf ihre zahlreichen Erfolge eingehen und verschiedene Facetten ihrer Persönlichkeit beleuchten. Die Fragen wurden so gewählt, dass sie nicht nur ihre Fachkenntnisse, sondern auch ihre persönlichen Hintergründe und Visionen für die Zukunft beleuchten. Es ist eine große Freude und ein Privileg für Polytec, mit einer so starken Persönlichkeit wie Prof. Gan verbunden zu sein. Sie finden hier ihre vollständige Biografie.

Function evaluation of the Direct Drive Hearing System (DDHS) in fresh human temporal bone (TB) with Polytec laser Doppler vibrometer (LDV)
Funktionstest des Direct Drive Hearing Systems (DDHS) am menschlichen Felsenbein mit einem Polytec Laservibrometer

Wie sind Sie zur Gehörforschung gekommen?

Meine Karriere in der biomedizinischen Technik, insbesondere in der Biomechanik, begann 1978, als die Hochschulausbildung und das Graduiertenprogramm in China wieder aufgenommen wurden. Ich bestand die Aufnahmeprüfung und kehrte an die Huazhong University of Science and Technology (HUST) zurück, um Mechanik zu studieren und wechselte dann zur Biomechanik, die mir Prof. Y.C. Fung, der Vater der modernen Biomechanik, bei seinem Besuch an der HUST vorstellte. Von 1978 bis 1995 absolvierte ich ein Master- und ein PhD-Studium sowie ein Postdoc-Programm, welches das Herz-Lungen-System und den Blutfluss als thematische Schwerpunkte hatte.

Auf der Frühjahrstagung der Biomedical Engineering Society 1995 schrieb das Hough Ear Institute in Oklahoma City eine Stelle als Director of Engineering für die Entwicklung eines implantierbaren Hörgeräts aus. Als ich auf der Konferenz Dr. Ken Dommer, den Forschungsdirektor des Hough Ear Institute und Professor für Physiologie am Health Sciences Center der University of Oklahoma kennenlernte, war ich von der Forschung an einem implantierbaren Hörgerät begeistert, denn das Mittelohr, das aus Gehörknöchelchen, Weichteilen und Gelenken für die Schallübertragung besteht, ist ein perfektes und faszinierendes mechanisches System.

Die Mittelohrforschung passte gut zu meinem Hintergrund in Biomechanik und meine 10-jährige Berufserfahrung in der Industrie in China sollte für die Entwicklung und Herstellung von Hörimplantaten ebenfalls nützlich sein. Außerdem glaube ich, dass die Gehörforschung näher an der klinischen Praxis ist und Gesundheitsprobleme der Menschen löst im Vergleich zur Grundlagenforschung im Bereich der Lungenbiomechanik, an der ich bis dahin gearbeitet hatte. Daher beschloss ich, meinen Forschungsschwerpunkt auf das Hören zu verlagern.

Mein erstes Projekt bestand darin, den Entwurf und die Funktionstests des Mittelohr-Implantats abzuschließen, bei dem es sich um ein elektromagnetisches implantierbares Hörgerät handelte, basierend auf einem Magneten, der an der Ossikelkette (Gehörknöchelchen des Mittelohrs) appliziert wird und einer Spule in der Ohrmuschel im Gehörgang, die diesen Magneten anregt, ein sogenanntes Direct Drive Hearing System (DDHS).

Ich möchte behaupten, dass wir ohne die Hilfe der Laservibrometrie den heutigen Entwicklungstand der auditiven Biomechanik nicht erreicht hätten.

Welche Rolle hat die Vibrometrie für Sie und für Ihr Fachgebiet im Allgemeinen gespielt?       

Das Hough Ear Institute war eines der ersten Institute, das Laser-Doppler-Vibrometer von Polytec für die Forschung am menschlichen Ohr bzw. Felsenbein eingesetzt hat. Ich habe das Forschungsteam am Hough Ear Institute geleitet, das die Messungen mit Laser-Doppler-Vibrometern an menschlichen Felsenbeinen aufbaute, um das DDHS zu testen, wobei die Schwingungen des Trommelfells und der Mittelohrknöchelchen (z. B. der Steigbügelfußplatte) erfasst wurden. Die Funktion des Mittelohr-Implantats bei zunehmender Bewegung der Steigbügelfußplatte durch den angekoppelten elektromagnetischen Antrieb wurde charakterisiert. Die Laservibrometrie spielte eine entscheidende Rolle bei der Charakterisierung des DDHS.

Auch basierend auf den Vibrometer-Messdaten haben wir im nächsten Schritt die medizinische Zulassung des DDHS für Forschungszwecke bei der US Food and Drug Administration (FDA) beantragt und schließlich wurde das Soundtec DDHS 2001 von der FDA als erstes aktives Mittelohr-Implantat auf dem US-Markt zugelassen. Darüber hinaus wurden während der Entwicklung des DDHS vier Zeitschriftenartikel veröffentlicht, die sich mit der Laservibrometer-Messung, der Massenbelastung der Gehörknöchelchen und der Mittelohrfunktion, den Biomaterialien und der klinischen Prüfung befassten.

Der Einsatz von Laservibrometern bei der Entwicklung aktiver Mittelohrimplantate ist nur ein Beispiel für die Verwendung von Polytec Laservibrometern in meinen Forschungsprojekten seit 1995. Seit meinem Wechsel an die Oklahoma University im Jahr 1999 habe ich Laservibrometer in allen meinen Projekten eingesetzt, die mit den im Anhang aufgeführten Veröffentlichungen in Verbindung stehen. Die 27 Jahre meiner Forschungserfahrung seit 1995 haben gezeigt, dass die Laservibrometrie in jeglicher Hinsicht die führende Messtechnologie im Bereich der Gehörforschung ist. Ich möchte behaupten, dass wir ohne die Hilfe der Laservibrometrie den heutigen Entwicklungstand der auditiven Biomechanik nicht erreicht hätten.

Characterization of mechanical properties of ear tissues, including dynamic tests using LDV with acoustic or electromagnetic loading.
Charakterisierung der mechanischen Eigenschaften von Ohrgewebe sowie Dynamiktests mit Laservibrometer

Was ist Ihrer Meinung nach die Zukunft der Gehörforschung?  
       
Ich denke, die Gehörforschung sollte sich zukünftig mehr auf den Schutz und die Wiederherstellung des Gehörs konzentrieren, durch translationale Forschung vom Tiermodell bis zum Menschen und die Entwicklung von Therapeutika zur Wiederherstellung des Gehörs, einschließlich Gehörschutzausrüstung (z. B. Ohrstöpsel) und implantierbarer Geräte (z. B. Mittelohrrekonstruktion, Cochlea-Implantate, Implantate des zentrale Hörsystems).

Hier sind einige wichtige Forschungsbereiche:
 

  • Nutzung menschlicher Felsenbeine für jegliche Untersuchungen im Bereich der Gehörforschung
  • Computermodellierung zur Vorhersage von Struktur-Funktionsbeziehungen
  • Tierversuche im Zusammenhang mit dem Gehör
  • Therapeutika zur Heilung von Gehörschäden
  • Implantate oder implantierbare Geräte zur Wiederherstellung des Gehörs
     

Hinsichtlich der Technologieentwicklung werden die Laservibrometrie und bildgebende Verfahren zu wichtigen technischen Werkzeugen und große Unterstützung für die Forschung und den klinischen Einsatz bieten.

Wenn Sie umfangreiche Mittel für die Gehörforschung bereitstellen könnten, welche Bereiche würden Ihrer Meinung nach das Leben der Menschen verbessern?
    
In den letzten 10 Jahren habe ich mich in meiner Forschungsarbeit mit dem durch hohe Schallintensität oder Explosionen verursachten Hörverlust und den Schutzmechanismen befasst, wobei ich einerseits einen experimentellen Ansatz mit menschlichen Felsenbeinen und Tieren und anderseits auch 3D-Computermodelle des menschlichen und tierischen Ohrs verfolgt habe. Wenn ich die Möglichkeit hätte, umfangreiche Mittel für die Gehörforschung zu vergeben, würde ich diese Richtung gerne weiterverfolgen, da sie neuartige Herausforderungen mit sich bringt im Vergleich zum normalen schallinduzierten Hörverlust und z. B. auch helfen kann, die Lebensqualität von Veteranen zu verbessern.

Es gibt zwei Bereiche, die mich besonders interessieren: Quantitative Beschreibungen von Gehörschäden nach wiederholter Exposition gegenüber Explosionen (oder Schall mit hoher Intensität) in Abhängigkeit von der Intensität der Explosion, der Anzahl der Expositionen, der Häufigkeit des Auftretens und der Zeit nach der Exposition sowie die Forschung an effektiven Schutzmechanismen für Gehörschutzausrüstung für Explosionen. Nach meinem Kenntnistand wurde ein solch moderner Ansatz noch nicht experimentell genutzt, um die biomechanischen und neurophysiologischen Grundlagen für Explosionsschäden am Gehör zu untersuchen.

Es soll gezeigt werden, dass unser 3D-Multiskalen-FE-Modell des menschlichen Ohrs erweitert werden kann, um Schädigungen durch Explosionen sowohl im Periphären als auch im Zentralen Hörsystem zu simulieren, indem die Ergebnisse des FE-Modells des Ohrs mit dem auditorischen Hirnstamm und der Hirnrinde korreliert werden, um eine Assoziation mit der durch traumatische Hirnverletzung induzierten Schädigung am Zentralen Hörsystem herzustellen.

Es soll gezeigt werden, dass unser 3D-Multiskalen-FE-Modell des menschlichen Ohrs erweitert werden kann, um Schädigungen durch Explosionen sowohl im Periphären als auch im Zentralen Hörsystem zu simulieren indem die Ergebnisse des FE-Modells des Ohrs mit dem auditorischen Hirnstamm und der Hirnrinde korreliert werden, um eine Assoziation mit der durch traumatische Hirnverletzung induzierten Schädigung am Zentralen Hörsystem herzustellen.

Nachfolgend sehen Sie ein 3D-Finite-Elemente-Modell (FEM) des menschlichen Ohrs zur Simulation der Perforation des Trommelfells und deren Auswirkung auf die Bewegung des Steigbügels. Das Modell wurde mit Laservibrometer-Messungen am menschlichen Felsenbein validiert.

Welchen Rat würden Sie jungen Forschenden geben?
 
Mein Rat an junge Forschende ist, einen Fokus auf Innovation und Zusammenarbeit zu legen und Forschungsarbeiten zügig zu publizieren. Erfolgreiche Forschung erfordert konstante Motivation und harte Arbeit.

Wie ich bereits erwähnte, beschäftigte ich mich in meiner Doktorarbeit und meiner Postdoc-Zeit mit dem Blutfluss und der Biomechanik von Weichteilen (z. B. Blutgefäßen), insbesondere der Lunge, bevor ich zum Hough Ear Institute in Oklahoma kam. Der Erfolg für einen derartigen Wechsel des Forschungsgebiets ist auf meinen starken Hintergrund in Biomechanik und Maschinenbau zurückzuführen. Als junge Forschende, vor allem in interdisziplinären Bereichen (z. B. Biomedizintechnik), muss man zu 100 % auf sein ursprüngliches Fachgebiet bauen, aber die meiste Zeit damit verbringen, komplett neue Themen zu erkunden, um innovative Lösungen für Probleme zu finden.

Wie sehen Ihre Pläne nach der Pensionierung aus?

Bestimmte berufliche Tätigkeiten wie die Prüfung von Forschungsanträgen und die Teilnahme an einigen Sitzungen werde ich nach dem Eintritt in den Ruhestand vielleicht nicht sofort einstellen können. Ich werde jedoch allmählich zu einer anderen Art von Leben übergehen: keine festen täglichen Aktivitäten an der Universität, keine Laborbesprechungen jeden Freitag um 17 Uhr usw.

Ein Plan für die Zeit nach der Pensionierung ist es, eine Autobiografie über mein Leben und meine Familie zu schreiben. Ich möchte, dass meine Erfahrungen und die Geschichte meines Vaters an die junge Generation weitergegeben werden können. Außerdem würde ich gerne mit der Familie und den Enkeln reisen.  

Begleitend zu ihrer Karriere und ihren Errungenschaften, die sich über mehrere Jahrzehnte erstrecken, empfehlen wir folgendes Webinar, veranstaltet und organisiert von der Columbia University und der World Association for Chinese Biomedical Engineers.

Vollständiges Interview

Bildnachweise: Soweit nachfolgend nicht anders aufgeführt bei den Autoren.